Führungskräfte gelten heute in vielen Unternehmen als Allzweckwaffe für jede Herausforderung. Aber kann Führung wirklich die Lösung für alle Probleme sein? Mercer-Experte Dieter Kern spricht im Interview über gestiegene Anforderungen, „Shared Leadership“ und moderne Führungskräfteentwicklung.
Allein der Harvard Business Review hat seit 1923 über 500 Artikel veröffentlicht, die sich in der ein oder anderen Art und Weise mit dem Thema Leadership beschäftigen. Führung ist wahrscheinlich schon immer die Obsession der Organisation. Klar, ohne Führung ist Organisation weder denk- noch machbar. Aus Sicht vieler Manager, Personaler und Experten ist der Faktor Leadership denn auch für den Organisationserfolg der wichtigste.
In Zeiten, in denen Märkte und gesellschaftliche Entwicklungen als unsicher erlebt werden, anders sozialisierte Mitarbeiter mit unterschiedlichen, neuen Erwartungen in die Unternehmen kommen und organisatorische Veränderungen an der Tagesordnung stehen ist es zudem wohl einfach auch menschlich, dass man sich stärker an Personen orientiert – Führungspersönlichkeiten eben, die das Kind schon schaukeln werden.
Zudem erleben wir heute in vielen Unternehmen eine Individualisierung der alltäglichen und mittel- bis langfristigen Herausforderungen. Handfeste, teilweise nicht auf Dauer lösbare Probleme, die es strukturell oder ganz anders anzugehen lohnten, werden als Führungsaufgabe definiert und im Folgenden als solche behandelt. Führung ist also die einfache und platte Antwort auf jedwedes, auch organisatorische, Problem. In der Organisation werden Probleme dann häufig wie eine Beule im Teppich von Bereich zu Bereich weitergeschoben mit der Erwartung, dass Führungskraft Mayer, Müller, Schulze irgendwie mit der Problemlösung beginnt. Als Einzelfall zwar ärgerlich, aber lösbar. Heute kommen aber derlei organisatorisch produzierte Beulen zu oft auf dem Schreibtisch einer Führungskraft zum Stillstand.
In Veröffentlichungen ist häufig von „Helden und Weisen“ die Rede, oder vom „postheroischen Manager“, der die Organisation befähigen soll. Andere empfehlen, machiavellistisch mit harten Bandagen zu kämpfen und bloß nicht an das Gute in der Welt zu glauben. Wieder andere raten zu einem Regel-Kodex und dem Ablegen einer zertifizierten Management-Prüfung. Den organisatorischen Wandel und Innovation voranzutreiben, ist ja sowieso schon länger Kerngeschäft des Transformational Leaders. „Behavioral complexity“ sei für den Manager genauso notwendig wie der Umgang mit „organizational ambidexterity“. Bei all dem müssen Führungskräfte, Manager und Leader selbstredend immer auf die eigene Work-Life-Balance achten. Darüber hinaus erfahren die persönliche Wertorientierung und die Fähigkeit, eine „diverse workforce“ zu bilden und diese erfolgreich zu führen, zunehmende Bedeutung.
Die für gute Führung notwendigen Kompetenzen lassen sich ganz grob in drei Kategorien zusammenfassen. So zählen Fähigkeiten wie Abenteuerlust, unternehmerische Begeisterung oder kulturelle Sensitivität zu den Grundlagen. Bei den eher handwerklichen Führungskompetenzen geht es um die Fähigkeit, Netzwerke aufzubauen und zu erhalten und situationsspezifisch auch in multikulturellen Kontexten führen zu können. Und es braucht als dritte Kategorie ein globales Mindset. Ein solches zeigt sich unter anderem in der Fähigkeit, in Systemen zu Denken oder einen anderen Zugang zum Thema Zeithorizonte zu materialisieren – in einer globalisierten Welt dauern Dinge länger als nur im Heimatland.
Am Führungsprozess sind per se verschiedene Akteure beteiligt. Insofern ist Führung schon immer geteilt. In der aktuellen Diskussion um Shared Leadership geht es aber mehr um die Vorteile, wenn man Führungsaufgaben lateral aufgeteilt und temporär begrenzt Führungsrollen eingenommen werden können. Für mich stellt sich Shared Leadership als eine Art „endemisches Führungsmodell“ dar. Funktioniert gut auf – kleineren – Inseln der Organisation. Zum Beispiel in Kontexten wie Projekt- oder Entwicklungsarbeit. Hier kann Verteilung sowohl Individuen als auch Organisation entlasten und bereichernd wirken.
Trotz aller flacher Hierarchien oder Lean Management gibt es mit Blick auf eine notwendigerweise zu akzeptierende Hierarchie im Unternehmen keine Machtsymmetrie zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Allerding ist es ja zum Glück so, dass manche Führungskraft mehr durch ihre Mitarbeiter geführt wird als ihr bewusst ist. Neben der Überwachung der Untergebenen gibt es ja auch so etwas wie die „Unterwachung“ von Vorgesetzten – in den Unternehmen gern „Followership“ genannt. Ein Auslöser hierfür ist sicherlich die sich in manchen Segmenten veränderte Machtsituation im Arbeitsmarkt. Mitarbeiter sind nicht mehr so leicht und günstig austausch- oder ersetzbar. Man muss diese für sich gewinnen und an sich binden – auch im ganz persönlichen Sinn. Auf die demokratische Spitze getrieben hat das Thema Followership kürzlich ein deutsches Unternehmen, welches seinen CEO durch die Mitarbeiter hat wählen lassen. Auf diese Art wird die notwendige Hierarchie durch rationale, wählende Follower bestätigt und legitimiert.
Die Gestaltung der unternehmensspezifischen Führungskompetenzen und das Design der HR-Instrumente obliegen dem Personalbereich. Diese sind in der Regel ziemlich gut: sehr präzise gearbeitete Verhaltensbeschreibungen, professionelle, teilweise IT-gestützte 360-Grad-Instrumente, Einkauf spezialisierter Management-Diagnostik–Experten, die wiederum valide Persönlichkeitstest im Gepäck haben. Das hilft, die richtigen zu identifizieren. Für das Management Development wird auf Kooperation mit Business Schools gesetzt. Zudem hat man oft einen Pool an qualifizierten Führungs-Coaches, die individuell mit den Managern arbeiten. In dieser Professionalität liegt jedoch ein Teil der Problematik: Organisatorische Beulen, die in Struktur, in Prozessen, Governance, IT-Systemen oder gar der Kultur der Organisation entstehen, werden mit derlei Instrumenten nur partiell geglättet. Man investiert viel in Verhalten und vernachlässigt die Verhältnisse
Leadership Development entwickelt sich zunehmend zu einer Copingstrategie in Unternehmen. Und umso mehr es in Organisationen zu „copen“, also zu bewältigen gibt, desto mehr wird Leadership Development betrieben. Dagegen ist es im Kontext eines veränderten Führens wichtig, Leadership und Organizational Development parallel zu betreiben, um Grundlagen zu schaffen für das Gelingen einer veränderten und sich kontinuierlich anpassenden Führung. In der Praxis heißt das, dass effektive Programme sehr eng an den tatsächlichen Businessthemen und Problemen des Unternehmens gebaut sind. Also an Themen wie z. B. Marktangang, Innovation oder Akquisitionen. Man verknüpft die Programminhalte mit den Prioritäten aus dem Geschäft – und entwickelt so parallel Führungsfähigkeit des einzelnen sowie Problemlösefähigkeit für die Organisation. Moderne Führungskräfteentwicklung stärkt nicht nur das Individuum sondern das gesamte Leadershipteam, dessen Zusammenhalt und Funktionsfähigkeit. Im Idealfall sehen sie nicht mehr den Unterschied zwischen „Lernen“ und „Arbeit“ und die Organisation hilft der Führungskraft, ihre Ziele zu erreichen.
Dieses Interview ist auch im BeraterGuide 2015 erschienen.