Begleitet von großem Interesse der Öffentlichkeit hat der 10. Senat des Bundesfinanzhofes (BFH) am 19.05.2021 in zwei Revisionsverfahren (Az. X R 20/19 und X R 33/19) über die vielzitierte „doppelte Besteuerung“ von Altersrenten entschieden.
Ihren eigentlichen Ursprung haben die Verfahren dabei in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.03.2002 (Az. 2 BvL 17/99). Hier hatte das BVerfG festgestellt, dass die Regelungen zur Besteuerung von Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, welche gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG in der seinerzeitigen Fassung nur mit Ertragsanteilen besteuert wurden mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar waren, soweit andererseits Versorgungsbezüge bis auf einen Versorgungs-Freibetrag von seinerzeit höchstens insgesamt 6000 DM zu den steuerpflichtigen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit gehörten. Der Gesetzgeber wurde daher verpflichtet, spätestens mit Wirkung zum 01.01.2005 eine Neuregelung zu treffen. Hierbei hatte das BVerfG in seiner Urteilsbegründung bereits auf Folgendes hingewiesen:
„Aufgabe des Gesetzgebers wird es sein, sich vor dem Hintergrund des breiten Spektrums der seit langem aufbereiteten Reformalternativen für ein Lösungsmodell zu entscheiden und dieses folgerichtig auszugestalten. Sowohl bei den weichenstellenden Grundentscheidungen als auch im Hinblick auf Art und Maß vertrauensschützender Übergangsregelungen ist der weite gesetzgeberische Gestaltungsraum nicht unbegrenzt. In jedem Fall ist die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird.“
Die schrittweise Umstellung der Besteuerung der Renten auf eine nachgelagerte Besteuerung seit dem 01.01.2005 wurde vom Gesetzgeber dann durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) umgesetzt.
Der BFH betont in seinen gegenständlichen neuen Entscheidungen, dass die Umstellung der Besteuerung der Alterseinkünfte, wie sie das AltEinkG seit dem 01.01.2005 vorsieht, als Systemwechsel zur vollen Einkommensteuerpflicht von Leibrenten und anderen Leistungen der Basisversorgung ebenso wie die Grundsystematik der gesetzlichen Übergangsregelung grundsätzlich verfassungsgemäß ist.
Dabei sieht der BFH aufgrund der Komplexität in Bezug auf die allgemeine Ausgestaltung der einschlägigen Übergangsregelungen im Zusammenhang mit dieser Umstellung ausdrücklich auch gröbere Typisierungen und Generalisierungen als zulässig an, da eine auf die individuellen Verhältnisse jedes einzelnen Steuerpflichtigen abstellende Übergangsregelung in der Umsetzung nahezu unmöglich wäre.
Dennoch muss eine unzulässige Doppelbesteuerung in der Form, dass die Summe der voraussichtlich steuerfrei bleibenden Rentenzuflüsse kleiner ist als die Summe der aus dem bereits versteuerten Einkommen aufgebrachten Rentenversicherungsbeiträge, im Einzelfall ausgeschlossen sein.
Auch wenn in den beiden verhandelten Fällen konkret keine unzulässige Doppelbesteuerung festgestellt wurde, hat der BFH die Berechnungsformel für die Feststellung, ob eine doppelte Besteuerung im Einzelfall vorliegt, mit seinen neuen Entscheidungen präzisiert.
Dabei ist laut BFH für die Feststellung einer Doppelbesteuerung im Wege einer Vergleichs- und Prognoserechnung die zwischen der früheren Beitragszahlung und dem heutigen bzw. künftigen Rentenbezug eintretende Geldentwertung nicht zu berücksichtigen. Daher können Wertsteigerungen entsprechend besteuert werden.
Wichtig für die zukünftige Berechnung einer doppelten Besteuerung sind die in den Urteilen vom 19.05.2021 weiter enthaltenen Aussagen des BFH zu Art und Weise der Berechnung. Zuvor hatte der BFH in einem Urteil vom 21.06.2016 (Az. X R 44/14) bereits einzelne Parameter bestimmt, welche nunmehr ergänzt wurden. Die maßgeblichen Berechnungsgrundlagen lassen sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen:
- Die Vergleichs- und Prognoserechnung ist auf den Zeitpunkt des Erstbezugs einer Altersrente mittels der dann aktuellsten Sterbetabelle vom statistischen Bundesamt vorzunehmen. Als steuerfrei bleibende Rentenzuflüsse sind hierbei infolge der gesetzlichen Übergangsregelung zu beanspruchende Rentenfreibeträge (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa Satz 4 EStG) für die Rente des Steuerpflichtigen sowie für eine etwaige Hinterbliebenenrente seines statistisch voraussichtlich länger lebenden Ehegatten anzusetzen.
- Weitere Beträge, die im Rahmen der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens des Rentners abziehbar sind oder steuerfrei gestellt werden, sind nicht einzubeziehen (z.B. Grundfreibetrag, Sonderausgabenabzug für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, Beitragsanteile des Rentenversicherungsträgers zur Krankenversicherung der Rentner, Werbungskosten-Pauschbetrag, Sonderausgaben-Pauschbetrag)
- Für die Ermittlung der in Veranlagungszeiträumen bis 2004 aus versteuertem Einkommen geleisteten Teile der Altersvorsorgeaufwendungen sind die Beiträge zu den verschiedenen Sparten der gesetzlichen Sozialversicherung (einschließlich der ihnen gleichgestellten Teile der Vorsorgeaufwendungen nicht gesetzlich Versicherter) gleichrangig zu berücksichtigen. Diese wertende Zuordnungsentscheidung ist erforderlich, da nach damaliger Rechtslage gemeinsame Höchstbeträge für sämtliche Arten von − einkommensteuerrechtlich dem Grunde nach abziehbaren − Vorsorgeaufwendungen vorgesehen waren. Alle anderen nach damaliger Rechtslage dem Grunde nach abziehbaren Vorsorgeaufwendungen werden im Rahmen der retrospektiv vorzunehmenden Prüfung, in welchem Umfang Altersvorsorgeaufwendungen in früheren Veranlagungszeiträumen als aus versteuertem Einkommen geleistet gelten, lediglich nachrangig berücksichtigt. Bei der Zusammenveranlagung von Eheleuten sind die gemeinsamen Sonderausgaben-Höchstbeträge auf die Eheleute entsprechend der zu berücksichtigenden Vorsorgeaufwendungen beider Eheleute aufzuteilen. Kürzungen der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung sind nicht vorzunehmen, soweit diese auch für andere Leistungen als diejenigen der Alters- oder Hinterbliebenenrente möglich sind.
- Für die in Veranlagungszeiträumen ab 2005 geleisteten Altersvorsorgeaufwendungen sind diejenigen Teile der Altersvorsorgeaufwendungen aus versteuertem Einkommen erbracht worden, die den − seitdem ausschließlich für Altersvorsorgeaufwendungen geltenden − Höchstbetrag nach § 10 Abs. 3 EStG in den ab 2005 geltenden Fassungen überschritten haben.
- Ohne Relevanz für die Berechnung ist, ob in der Beitragsphase eine Null-Festsetzung vorlag, d. h. ob die tatsächliche Einkommensteuer im jeweiligen Veranlagungszeitraum 0 DM/€ betragen hat.
Ob es im Rahmen der Berechnung der doppelten Besteuerung eine Bagatellgrenze geben kann, hat der BFH zunächst offengelassen. Ebenfalls offengelassen hat der BFH die Frage, was konkret die Folge einer unzulässigen Doppelbesteuerung wäre, d. h. ob der Einzelfall bereits dem BVerfG zur Prüfung und Feststellung der Verfassungswidrigkeit vorzulegen oder nur das Finanzamt zur abweichenden Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) aufgefordert wäre.
Aufgrund dieser Vorgaben des BFH zeichnet sich bereits jetzt ab, dass ohne eine weitere gesetzliche Neuregelung jedenfalls künftige Rentnergenerationen höchstwahrscheinlich in unzulässiger Weise doppelt besteuert würden, da für spätere Rentnerjahrgänge der Rentenfreibetrag nach der gesetzlichen Übergangsregelung immer weiter abgeschmolzen wird. Da Neurentner in 2021 mit der Basisversorgung bereits einem Besteuerungsanteil von 81 % unterliegen, wird der Rentenfreibetrag künftig rechnerisch in bestimmten Fällen nicht mehr ausreichen, um die aus versteuertem Einkommen geleisteten Teile der Rentenversicherungsbeiträge zu kompensieren.
Entgegen der neuen Rechtsprechung des BFH hat die Finanzverwaltung in der Vergangenheit bei der Ermittlung der steuerfrei bleibenden Rentenzuflüsse zusätzlich den allgemeinen steuerlichen Grundfreibetrag berücksichtigt, mit der Folge, dass auch für die Prognosen der nächsten Rentnergenerationen die voraussichtlich zufließenden steuerfreien Rententeilbeträge in der Regel höher ausfielen, als die Summe der aus versteuertem Einkommen geleisteten Beiträge. Der Grundfreibetrag wird allerdings nun zukünftig nach den Vorgaben des BFH nicht mehr bei der Vergleichs- und Prognoserechnung Berücksichtigung finden können.
Im Verfahren X 20/19 hat der BFH für die auf gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG nur mit dem Ertragsanteil zu besteuernden Renten aus privaten Versicherungsverträgen außerhalb der Basisversorgung zudem klargestellt, dass hier bereits aus systematischen Erwägungen bei einer Ertragsanteilsbesteuerung nicht gegen das Verbot der doppelten Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und späteren Alterseinkünften verstoßen werden kann.
Als der in § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb Satz 4 EStG benannte "Ertrag des Rentenrechts (Ertragsanteil)" gilt nach Satz 3 der Vorschrift der Unterschiedsbetrag zwischen dem Jahresbetrag der Rente und dem Betrag, der sich bei gleichmäßiger Verteilung des Kapitalwerts der Rente auf ihre voraussichtliche Laufzeit ergibt, wobei der Kapitalwert nach dieser Laufzeit zu berechnen ist. Hierdurch wird nach Auffassung des BFH bereits sichergestellt, dass nur der gleichmäßig auf die nach biometrischen Durchschnittswerten bemessene Dauer des Rentenbezugs verteilte Zinsanteil einer Kapitalrückzahlung versteuert wird und damit dann auch eine Doppelbesteuerung ausgeschlossen ist.
Die naheliegende Frage, ob ein Steuerpflichtiger, der wie im gegenständlichen Verfahren auf die antragsabhängige Nutzung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG und damit auf das gesetzliche Instrument zur Vermeidung einer doppelten Besteuerung bewusst verzichtet, insoweit überhaupt einer verfassungswidrigen Besteuerung ausgesetzt sein kann wurde hierbei leider nicht entschieden.
Im Kontext der Entscheidungen ist zu betonen, dass auch zukünftig den Steuerpflichtigen prozessual die Darlegungslast für das Vorliegen einer etwaigen doppelten Besteuerung trifft, was sich im Einzelfall aufgrund der lang zurückliegenden steuerlichen Sachverhalte oft als unüberwindbare Hürde darstellen könnte. Zumindest die konkrete Berechnung einer möglichen doppelten Besteuerung ist aber nicht von den Darlegungserfordernissen umfasst, sondern grundsätzlich vom Finanzamt bzw. im Streitfall den Gerichten vorzunehmen.
Aufgrund der beiden neuen Urteile ist nun der Gesetzgeber gefordert, die Rentenbesteuerung zur Vermeidung einer zukünftig wahrscheinlicher werdenden Doppelbesteuerung neu zu regeln. Inwieweit dies zeitnah nach den Wahlen im September durch eine neue Bundesregierung angegangen wird, bleibt ebenso, wie die konkrete Ausgestaltung der Neuregelung aufgrund der bereits erwähnten Komplexität des Themas spannend.